Montag, 31. Dezember 2012

Liebe nach Liebe

Die Zeit wird kommen,
wenn du mit Schwung
dich selbst an deiner eigenen Tür
begrüßen wirst, in deinem eigenen Spiegel,
und jeder wird beim Gruß des anderen lächeln

und sagen, setz dich hier hin. Iß.
Du wirst wieder den Fremden lieben, der du warst.
Gib Wein. Gib Brot. Gib dein Herz sich selbst
zurück, dem Fremden, der dich geliebt hat

dein ganzes Leben, den du wegen eines anderen
übersahst, der dich inwendig kennt.
Nimm die Liebesbriefe vom Bücherbord herunter,

die Fotografien, die verzweifelten Zeilen,
pelle dein Bild vom Spiegel ab.
Setz dich. Schmause von deinem Leben.

~ Derek Walcott, übersetzt von Klaus Martern

Freitag, 28. Dezember 2012

Wildgänse

Du musst nicht gut sein,
Du musst auch nicht auf deinen Knien
hunderte von Meilen bereuend durch die Wüste rutschen.
Du musst nur das zarte Tier deines Körpers
lieben lassen, was es liebt.

Erzähl mir von deiner Verzweiflung, und ich vertraue dir meine an.
Inzwischen dreht sich die Erde weiter.
Inzwischen zieht die Sonne und die klaren Regenkiesel
über die Landschaften,
über die Prärieen und die tiefen Wälder,
die Berge und die Flüsse.

Inzwischen fliegen die Wildgänse, hoch in der klaren blauen Luft,
ihrem Zuhause entgegen.

Wer du auch bist, ganz gleich wie einsam,
die Welt zeigt sich dir in deiner Vorstellung,
ruft dich wie die Wildgänse, rauh und aufgeregt -
und verkündet immer wieder deinen Platz
in der Familie der Dinge.

~ Mary Oliver

Sonntag, 23. Dezember 2012

und Erde hinüber

Dieses Sterben verschweigen
kann ich nicht.
Brichst du hinaus aus mir wie Wahn.
Dass ich dich aushauche, hinab
weit unter mein Herz

und Erde hinüber.

Im Frühling
steht die Wiese satt
auch um die Toten

und grün so wie der Fink,
der über dein Grab hin lernt zu tanzen.

Samstag, 8. Dezember 2012

Es entsteht eine Stille

"Wäre es uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht, und noch ein wenig über die Vorwerke unseres Ahnens hinaus, vielleicht würden wir dann unsere Traurigkeiten mit größerem Vertrauen ertragen als unsere Freuden. Denn sie sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas Unbekanntes; unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt.

Ich glaube, daß fast alle unsere Traurigkeiten Momente der Spannung sind, die wir als Lähmung empfinden, weil wir unsere befremdeten Gefühle nicht mehr leben hören. Weil wir mit dem Fremden, das bei uns eingetreten ist, allein sind, weil uns alles Vertraute und Gewohnte für einen Augenblick fortgenommen ist; weil wir mitten in einem Übergang stehen, wo wir nicht stehen bleiben können. Darum geht die Traurigkeit auch vorüber: das Neue in uns, das Hinzugekommene, ist in unser Herz eingetreten, ist in seine innerste Kammer gegangen und ist auch dort nicht mehr, - ist schon im Blut. Und wir erfahren nicht, was es war. Man könnte uns leicht glauben machen, es sei nichts geschehen, und doch haben wir uns verwandelt, wie ein Haus sich verwandelt, in welches ein Gast eingetreten ist. Wir können nicht sagen, wer gekommen ist, wir werden es vielleicht nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür, daß die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht.

Und darum ist es so wichtig, einsam und aufmerksam zu sein, wenn man traurig ist: weil der scheinbar ereignislose und starre Augenblick, da unsere Zukunft uns betritt, dem Leben so viel näher steht als jener andere laute und zufällige Zeitpunkt, da sie uns, wie von außen her, geschieht. Je stiller, geduldiger und offener wir als Traurige sind, um so tiefer und um so unbeirrter geht das Neue in uns ein, um so besser erwerben wir es, um so mehr wird es unser Schicksal sein [...]"

~ Rainer Maria Rilke, aus einem Brief an Franz Xaver Kappus